Minimalismus

Die Archäologie des Ausmistens

Im Gegensatz zur Lifestyle-Inflation geht es im Minimalismus um die bewusste Reduzierung auf das Wesentliche. Dabei gibt es jedoch keine Vorgaben, wie viele Paar Socken man beispielsweise als „guter“ Minimalist zu besitzen hat oder wie groß oder klein die Wohnung sein darf. Im Gegenteil, jeder muss selbst herausfinden, was für ihn oder sie selbst passend ist. Ein für alle gültiges Optimal gibt es nicht.

Wer sich ganz zu Beginn seiner Reise von der schieren Menge der eigenen Gegenstände erschlagen fühlt und am liebsten alles sofort loswerden möchte, sollte sich das Bild eines Archäologen vorstellen. Stück für Stück wird mit vorsichtigen Pinselstrichen das Wertvolle freigelegt. Ohne Hauruck-Aktionen und immer behutsam und mit Bedacht. Denn würde man die Erde einfach mit einer riesigen Baggerschaufel auf Links drehen, wäre die Gefahr groß, etwas Wichtiges zu zerstören.

Und genau so kann man sich auch an den eigenen Weg wagen. Statt also zu fragen, was die ideale Menge an Tellern für einen Ein-Personen-Haushalt sei oder wie man sich am besten und schnellsten von persönlichen Schätzen trennt, sollte man sich seinen eigenen Weg suchen. Und eben auch sein eigenes Tempo. Es gibt kein Richtig oder Falsch für alle aber durchaus ein Richtig oder Falsch für den Einzelnen. Also nicht wie ein Berserker alles auf einmal rausschmeißen, nur um die sagenumwobenen Leichtigkeit des Minimalismus zu erleben. Sondern mit Sinn und Verstand an die Sache herangehen und sich eine passende Strategie heraussuchen und – vor allem – sich die nötige Zeit nehmen. Denn was einmal weg ist, ist weg.

Um den so wichtigen wie auch schwierigen ersten Schritt zu wagen, gibt es viel tolle Hilfestellungen und wunderbare Erläuterungen im Netz. Diese können als klare Anleitung einfach befolgt werden oder man lässt sich einfach inspirieren und probiert das eine oder andere ohne Zwang aus. Das eigene Bauchgefühl meldet sich dann in der Regel recht schnell und zeigt einem, welches der richtige Weg ist.

Und so legt man Schicht für Schicht die individuelle Wohlfühlmenge für den persönlichen Besitz frei. Als erstes gehen womöglich nur ein paar ausgelesene Zeitschriften und am Ende vererbt man die geliebte Spielzeugsammlung ohne dem ganzen auch nur eine Träne nachzuweinen.

Und wie es auch beim Freilegen Jahrtausende alter Knochen ein bisschen Übung und viel Geduld braucht, so werden auch das Aussortieren und Ordnung schaffen mit der Zeit immer einfacher. Sich von Dingen zu trennen, ist wie einen Muskel zu trainieren. Am Anfang glaubt man oft, dass man die Sachen ja noch brauchen könnte. Doch mit jedem Gegenstand fällt es einem leichter, sich zu lösen.

Und doch wollen wir am Ende nicht nur mit dem Nötigsten am Leib dastehen. Genauso wie man bei einer erfolgreichen Ausgrabung hoffentlich nicht aus Versehen sämtliche Grabbeigaben des Pharaos auf den Schutthaufen kippt. Wobei das vielleicht ein nicht so passendes Beispiel für Minimalisten ist, denn wer will schon mit einem riesigen Berg unnützem Krempel ins Jenseits reisen – von wegen leichtes Gepäck, wenn die damals schon etwas von Death Cleaning gehört hätten…

Wer mit Leidenschaft einem Hobby nachgeht, das einfach ein paar Dinge erfordert, der sollte sich nicht von „idealen“ Zahlen einengen lassen. Ebenso sollte man es entspannt sehen, wenn Mitmenschen (noch) an Dingen hängen. Oft hört man von übermotivierten Minimalismus Anhängern, dass der Partner einfach nicht mitziehe. Dabei vergisst man oft den eigenen Vorsprung, den man hat. Man hat sich schon viel länger mit dem Thema beschäftigt, vielleicht schon fleißig die eigenen Sachen reduziert und tritt jetzt mit großen Erwartungen an den Gegenüber heran. Doch dieser reagiert so gar nicht erleuchtet. Statt Kooperation erlebt man Widerstand.

Auch hier ist Geduld gefragt. Ebenso, wie mit gutem Vorbild vorranzugehen. Druck erzeugt an dieser Stelle lediglich Gegendruck. Und ein gar nicht so übler Kerl hat mal zu mir gesagt „Hab mich lieb, du hast mich so geheiratet“. Also nicht dem Gegenüber seine neu gewonnene Lebenseinstellung aufdoktrinieren!

Doch wer unbeirrt seinen eigenen Weg geht, begeistert womöglich auch andere. Denn mit jeder Schicht, die man abträgt um sich dem eigentlichen Ziel zu anzunähern, steigt auch die eigene Zufriedenheit. Und das schauen sich andere dann gerne ab.

Dabei kann es durchaus vorkommen, dass man unerwartet auf Schätze stößt. Eine alte Postkarte, die man in einem Buch findet oder ein längst vergessenes Schmuckstück, das beim Ausräumen einer Schublade auftaucht. Die Auseinandersetzung mit Vergangenem kann schöne oder auch traurige Erinnerungen hervorrufen. Doch am Ende bleiben nur noch die Dinge, die man wirklich um sich haben möchte. Ganz egal, ob es nun 10 oder 1000 Dinge sind.

4 thoughts on “Die Archäologie des Ausmistens

  1. Ohja. Ich erinnere mich daran, damals, als ich mit dem Reduzieren begonnen habe. Irgendwann sass ich verzweifelt in einem Haufen Dinge, ein Riesenchaos um mich rum, und wusste nicht mehr weiter. Also immer schön langsam, eins nach dem andern. Ich hab mir dann eine Kommode, einen Schrank, eine Schublade nach der andern vorgenommen. Ausgeräumt, durchgeschaut, aussortiert und das, was übrigblieb, wieder eingeräumt. So hab ich unsere Wohnung peu à peu von allem Überflüssigen befreit. Das war der Weg, der für mich gangbar war. Und erfreulicherweise hat HH da voll mitgezogen. Er ist eh der Typ „Mein Tisch, mein Bett, meine Stereoanlage!“ Also viel Glück gehabt, *ggg*! Jetzt leben wir in einem sehr übersichtlichen, sehr ordentlichen und doch sehr gemütlichen Zuhause. Das ist tatsächlich eine grosse Erleichterung.
    Diese 100-Dinge-Sache habe ich noch nie so recht verstanden- und praktikabel wärs für mich schon mal gar nicht. Denn ich brauche für mein kreatives Werkeln einfach einen ordentlichen Vorrat an Material. Ohne nix wirds nix, das wusste schon meine Oma. Ansonsten aber gibts von allem das Nötigste und ein paar geliebte Dinge, die einfach nur hübsch und vollgepackt mit Erinnerungen sind. Und die ich niemalsnie hergeben würde.
    Ich kann jedem nur raten: mach dich frei von dem ganzen Kram, der einem nur belastet! Es ist ein ganz grossartiges Gefühl.
    Schönes WE, herzliche Grüsse!

    1. Material für kreatives Austoben ist ja nichts, was einen belasten sollte. Sonst hat man das falsche Hobby. Ich finde auch, das man das persönliche Wohlbefinden nicht an einer Zahl festmachen kann. Aber es gibt sicher auch Menschen, die genau das glücklich macht.

  2. amen!
    genauso. ist schliesslich keine olympiade alá „wer hat am wenigsten zeug“.
    ich hab z.b. viel „zeug“ – aber nichts, was nur rumliegt oder mich nicht glücklich macht. seien es haushaltsgegenstände, dekorationen (die meist einem nützlichen zweck dienen wie vasen, leuchter, kästchen)….. oder eben klamotten. eine zeitlang habe ich mehr gekauft in den 2.hand-läden, als ich aktuell brauchte – jetzt, nach reichlich 10 jahren, macht sich das sehr „bezahlt“: die ersten abnutzungserscheinungen treten auf und ich gehe an die „reserven“ – die eine qualität haben, die man heutzutage nurnoch schwer bekommt………. schätze halt 😀
    (da ich alle neugekauften klamotten (mostly 2.hand) im blog gezeigt habe, liesse sich sehr gut ausrechnen (wenn ich nicht zu faul wäre), wieviele es über die letzten jahre waren – 60/jahr habe ich im ganzen leben noch nie geschafft!
    xxxx

    1. Über ein bisschen Reserve wäre ich momentan auch froh. Ich habe einfach aus akuter Unlust irgendwann aufgehört, Klamotten zu kaufen. Eine Weile war das ok, aber wenn ich dann was gebraucht habe, habe ich natürlich nie gefunden, was ich gesucht habe. Und meine Nähkünste lassen schwer zu wünschen übrig. Jetzt halte ich die Augen offen und lasse neue Dinge einziehen, wenn sie mir mit Glück mal über den Weg laufen.
      Der Herr im Haus ist nicht besser. Er hätte beinahe ohne Hosen rumlaufen müssen, da die paar, die er hatte, alle gleichzeitig auseinandergefallen sind. Das artet dann immer in Stress aus. Also wer zwanghaft Kleider ausmistet, um einen minimalistischen Kleiderschrank zu haben, darf nicht wählerisch sein, wenn er mal was Neues braucht.

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